„Ruf den Krankenwagen. Ich werde gelähmt.“
Zeit fliegt nicht. Sie zerrinnt – lautlos zwischen den Fingern. Und was einmal vergangen ist, kehrt nie mehr zurück. Für immer verloren, wenn wir sie nicht bewusst gelebt haben.
Wir haben den 15. April 2025 … mein Blick ist lange auf dem Kalender hängen geblieben (komischer Ausdruck, ich weiß 😊).
Manchmal frage ich mich, wo die Zeit hingeht. Sie scheint so schnell zu verschwinden – und die bittere Erkenntnis, dass sie für immer weg ist, regt zum Nachdenken an.
Ich bin jetzt 41 Jahre jung und werde immer wieder durch verschiedene Erinnerungen in die Vergangenheit katapultiert – es sind kurze Momente, die tief sind.
Es sind 23 Jahre vergangen, seit meine Mutter gestorben ist – sie war in meinem Alter, und ich war damals 18 Jahre jung. Erst heute, sinnbildlich gesprochen, wird mir klar, dass 41 Jahre nichts sind … Damals, als Jugendliche, hatte ich ein ganz anderes Empfinden dafür.
Es war ebenfalls zur Osterzeit. Ich erinnere mich: ein Tag nach der Beerdigung, die sehr emotional war, saß ich mit meinem Vater im Wohnzimmer. Meine Brüder haben noch geschlafen und mein Vater und ich wollten darüber sprechen, was es zum Essen geben wird.
„Ruf den Krankenwagen. Ich werde gelähmt.“
Seine Worte trafen mich mit voller Wucht. Er sagte es einfach.
Ohne Panik, ohne Erklärung.
Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte – aber ich habe funktioniert.
Ich tat, was ich in den letzten Jahren so oft getan hatte: Ich habe gehandelt.
Ich habe den Notdienst angerufen und den Rest organisiert.
Bis sie eingetroffen sind, war mein Vater bereits vollständig auf seiner rechten Körperhälfte gelähmt.
Es war keine Zeit für Gefühle, Tränen, Angst oder sonstiges.
Wir waren allein.
Mein kleiner Bruder war gerade 13, mein großer 21.
Und unser Vater – erschöpft vom Tod seiner Frau, ausgelaugt vom Alkohol und jahrelangen Kettenrauchen – saß da, stumm, bewegungslos.
Und die Ärzte?
Beurteilend. Herablassend.
Im Krankenhaus dann die Diagnose: Schlaganfall.
Und die kalte Aussage:
„Der Alkoholiker stirbt sowieso!“
In diesem Moment konnte ich nicht mehr schweigen. Mein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit – der gleichzeitig eine tiefe Wunde in mir birgt – siegte. Ich fand die Worte. Ruhig, aber sehr bestimmt erklärte ich den Ärzten, dass der „Alkoholiker“, der da liegt, gerade seine Frau auf tragische Weise verloren hat.
Dass er einer der besten Mathematik- und Physikprofessoren der Region war.
Dass er nun alleinerziehend mit drei Kindern ist.
Ich bat darum, ihn als Mensch zu sehen. Nicht als Stempel. Nicht als Fallnummer.
Damals in Rumänien war das Gesundheitssystem stark von „Zuwendungen“ geprägt.
Wer nichts gab, bekam auch nichts – keine Schmerzmittel, keine Behandlung.
Nur das absolute Minimum.
Warum ich heute darüber schreibe…
Weil 23 Jahre zwar wie eine Ewigkeit klingen – aber in Wahrheit ein Wimpernschlag sind.
Vergangene Erlebnisse formen uns… mehr als uns lieb ist. Sie wachsen mit uns. Schlummern in uns.
Tauchen auf – in Momenten, in denen wir sie am wenigsten erwarten.
Wenn wir wenig mit diesen Themen gearbeitet haben, wenn wir unseren Gefühlen und Emotionen keinen Raum gegeben haben, drücken sie sich auf andere Weise aus.
Manchmal psychisch: als Depression, Angst, Panik.
Manchmal körperlich: in Form von immer wiederkehrenden Erkältungen, Mandelentzündungen, Tinnitus, Diabetes, Pankreasinsuffizienz, Reizdarm, Krebs – und vielem mehr.
Unser Körper vergisst nichts.
Jede Zelle speichert. Alles. Jede Erinnerung – die schönen, wie auch die schmerzhaften.
Und ist es nicht so, dass wir den schweren Gefühlen oft mehr Raum geben als den leichten?
Dass wir Schmerz schneller vermehren als Freude?
Dass wir uns das Glücklichsein manchmal gar nicht richtig erlauben?
Eine Kultur des Klagens – und die Macht des Fokus
Wir sind in einer Kultur aufgewachsen, in der Jammern verbindet.
Unser Fokus wird von klein auf auf das gelegt, was nicht gut läuft.
Das wird unter die Lupe genommen und vergrößert.
Und je öfter wir das tun, desto stärker wird das Gefühl, desto intensiver die Wunde – wie ein Tattoo auf der Seele.
Mein Leben – und all die Erlebnisse – haben mich dazu gebracht, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Dieser Durst nach Verstehen, Akzeptanz und Loslassen hat mich geführt.
Ich hatte zu Hause genügend Beispiele dafür, wie ich es nicht wollte.
Und ich hatte die Wahl:
Schaue ich weg – oder schaue ich hin?
Ich habe mich fürs Hinsehen entschieden. Und es war nicht leicht. Es war schmerzhaft. Ein langer Prozess.
Auch heute darf ich immer wieder meine Komfortzone erweitern – und wachsen.
Aber ich kann mit 100 % Gewissheit sagen:
Es ist möglich, trotz aller Widrigkeiten, Traumata und Herausforderungen ein glückliches Leben zu führen.
Und wenn dir jemand da draußen sagt, dass Affirmationen, Manifestieren und Meditieren allein helfen – dann renn!
Denn das stimmt nicht.
Hör auf, hinter Luftballons herzulaufen.
Verändere nicht nur das Außen, solange das Innen noch ruft.
Denn sonst trägst du nur eine weitere Maske.
Und darunter liegt eine verletzte Seele, die sich sehnlichst wünscht, gesehen und angenommen zu werden.
Es gibt viele Erkenntnisse die mich in all den Jahren begleitet haben und eine davon mag ich jetzt mit dir teilen:
Es gibt NUR eine Konstante im Leben: das ICH! oder anders formuliert:
„Ich habe nur eine Konstante in meinem Leben: MICH.“
Und ich werde mich überall mitnehmen – ganz egal, wie oft ich im Außen etwas verändere. Egal wie oft ich den Job, Wohnort, Partner, Freunde usw. wechseln werde… werde ich immer dabei sein und nehme ungewollt all meine Überzeugungen, Denkstrukturen, Ängste, Sorgen, Zweifel, meine Freude und mein Glück mit.
Egal was wir machen, wir werden an uns selbst nicht vorbeikommen … es sei denn man will mit eine, zwei, drei Masken durch die Weltgeschichte gehen…
Ich hoffe sehr, dass dieser Beitrag und diese Gedanken und Erfahrungen zum Nachdenken anregen und ein Impuls geben zum Innehalten und wahrnehmen.
P.S.: Mein Vater wurde nach kurzer Zeit wieder gesund. Er hörte auf zu rauchen und zu trinken.
Er lebte noch 20 weitere Jahre – und brachte vielen Kindern Mathematik auf spielerische Weise bei.
Er war ein guter Mensch, der sich zeitweise verloren hatte …